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Bringt der Weihnachtsmann den Papi zurück?
 

von Birgit Arzet

 

Es regnet. Am Heiligabend sollte es nicht regnen. Doch Hilde stört es nicht, es passt zu ihrer Stimmung. Zum ersten Mal in ihrem 60-jährigen Leben ist sie am Heiligabend allein.

Es ist früher Nachmittag. Hilde schaut sich prüfend um, ehe sie ihren Mantel anzieht. Die elektrischen Lichter an ihrem Christbaum kann sie getrost brennen lassen. Die Wohnung würde dann bei ihrer Rückkehr nicht so dunkel und verlassen aussehen.

 

Das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs quietscht in den Angeln. Hilde stapft in ausgetretene Fußspuren auf dem Pfad, den sie schon so oft gegangen ist. Keine Menschenseele ist zu sehen, nur kleine Lichter flackern auf den Gräbern. Lange steht Hilde am Grab ihres Mannes. Letztes Jahr haben Alfred und sie noch zusammen Heiligabend gefeiert.

Hilde wird durch Schritte und Stimmen aus ihren Gedanken gerissen. Unwillig schaut sie hoch und entdeckt eine dunkel gekleidete Frau mit zwei kleinen Kindern. Sie gehen zu dem frischen, mit Kränzen bedeckten Grabhügel. Vor einem Monat ist dieser schreckliche Verkehrsunfall passiert. Hilde kennt die Familie nicht, aber in der Kleinstadt hat sich das Unglück schnell herumgesprochen.

Das größere Mädchen steckt ein geschmücktes Bäumchen in die Erde, als ihre Schwester plötzlich zu weinen beginnt.

„Mama, es ist doch so kalt hier. Und dunkel. Warum kann Papi nicht wieder bei uns zu Hause sein?“

Mein Gott, denkt Hilde, wie soll eine Mutter am Heiligabend ihre kleinen Kinder trösten, die den Vater verloren haben? Die Nässe dringt durch Hildes Schuhe. Aber sie wartet geduldig, bis die Familie sich wieder auf den Heimweg macht.

„Kann der Weihnachtsmann mir den Papi nicht wieder zurückbringen?“, hört sie das Mädchen beim Hinausgehen fragen.

Nein, das kann er wohl nicht, denkt Hilde traurig, während sie langsam an dem Grabhügel vorbei geht und den Namen auf dem Holzkreuz liest.

Dann wird sie sehr nachdenklich. Bis sie mit einem Lächeln auf den Lippen und zügigen Schritten nach Hause eilt.

 

Die zweite Strophe des Weihnachtsliedes „Oh Tannenbaum“ ist noch nicht zu Ende, da klingelt es an der Tür. Die Kinder verstummen, die Mutter erwidert ratlos die fragenden Blicke ihrer Mädchen.

Die Kleine springt zuerst auf und öffnet neugierig die Haustür. Staunend, mit offenem Mund starrt sie den Besucher an. Dann geht ein Strahlen über ihr Gesicht. „Hast du den Papi mitgebracht?“

Mittlerweile sind auch Mutter und Schwester in die Diele gekommen – mit ebenso ungläubigen Gesichtern. Wahrhaftig, hier steht doch tatsächlich ein Weihnachtsmann!

„Nein, mein Kind, leider kann ich deinen Papa nicht mitbringen. Aber ich soll euch ganz liebe Grüße von ihm sagen. Auch wenn er heute nicht in eurer Stube sitzen kann, feiert er trotzdem mit euch das Weihnachtsfest.“

Die Mutter findet endlich ihre Sprache wieder und bittet den Weihnachtsmann ins Wohnzimmer.

Sein langer roter Mantel bedeckt fast das ganze Sofa. „Kinder, wollt ihr euch mal zu mir setzen? Ich möchte euch berichten von eurem Vater. Es geht ihm gut. Er muss nicht frieren und er ist nicht im Dunkeln. Da, wo ihr ihn besucht, auf dem Friedhof, ist nur der Ort, wo sein Körper die letzte Ruhe gefunden hat.

Aber das, was euer Vater ist, seine Gedanken und Gefühle, seine Seele, seine Liebe wird immer mit euch sein. Ich weiß, es ist schlimm für euch, dass er nie mehr zurückkommen kann ...“

„Auch du kannst ihn uns nicht bringen?“, unterbricht die Kleine.

„Nein, auch ich nicht. Ein Weihnachtsmann darf nicht lügen. Aber ich gebe euch mein Ehrenwort, dass es ihm gut geht und er jetzt in einem hellen, strahlenden und warmen Licht ist. Und manchmal schickt er euch etwas von diesem Licht, so wie heute Abend.“

Das ältere Mädchen fragt schüchtern. „Kommst du nächstes Jahr am Heiligabend wieder?“

Der Weihnachtsmann überlegt lange, dann antwortet er: „Das weiß ich nicht. Aber ... wenn ihr ganz fest an euren Papa denkt, könnt ihr immer etwas von dem Licht spüren. Dazu braucht ihr mich nicht.“

 

Langsam und bedächtig geht Hilde unter den Lichterketten der Straße hindurch. Sie ist froh wie schon lange nicht mehr. Ein kleiner Hoffnungsstrahl lugt aus ihrem Innersten, vermischt mit Rührung und Dankbarkeit.

Über der Schulter trägt sie eine große Umhängetasche mit einem langen roten Mantel darin.

Von weitem grüßen aus ihrem Wohnzimmerfenster die funkelnden Kerzen ihres Weihnachtsbaumes. Hilde denkt an Alfreds Licht und freut sich auf zu Hause.